Bilanzen in Sachen Kinofilm können nicht nur für Buchhalter und Produzenten interessant sein: vermitteln sie doch Aufschlussreiches über die Vorlieben und das Desinteresse von Kinogängern. Vorweg: Das Jahr 2016 war kein Erfolgsjahr, es gab einen Umsatzrückgang von fast einem Drittel, obwohl im Vergleich zum Vorjahr erheblich mehr Filme in die deutschen Kinos kamen. In Zahlen: ein Besucherrückgang um 12,8 Prozent mit 115 Millionen verkauften Eintrittskarten. Freilich ist hiermit die Gesamtheit der Filmstarts, die natürlicherweise von US-Produktionen beherrscht werden, gemeint. 22,3 Millionen Besucher sahen sich Filme aus Deutschland an, die damit einen Marktanteil von rund 19,3 Prozent haben.

Umso überraschender dann dies: Ausgerechnet ein Film mit ernstem Background erreichte Platz 1 mit mehr als 3 Millionen Besuchern: die Komödie Willkommen bei den Hartmanns. Simon Verhoeven schrieb das Drehbuch und führte auch Regie; er zeigt, wie eine gutwillige, aber naive deutsche Familie einen Flüchtling aufnimmt und in heftige Turbulenzen gerät. Erfreulich und eben auch erstaunlich ist der Erfolg des Films beim Publikum in Zeiten rapide abnehmender Willkommenskultur allemal! Und dann ist da der inzwischen internationale Überflieger: Toni Erdmann! Und das Beste: das deutsche Publikum würdigte den Film: um die 800.000 Besucher – trotz Überlänge mit 162 Minuten! Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade drehte diese Tragikomödie wider den allesfressenden Turbokapitalismus mit Peter Simonischek und Sandra Hüller als Vater und Tochter, die durch Generations- und Zeitgeistwelten getrennt sind.

War früher das Markenzeichen ambitionierter deutscher Regisseure der humorfreie „Problemfilm“, so sind es jetzt Komödien, die sich sehr oft latenten gesellschaftlichen und auch persönlichen Krisenherde nähern. Etwa SMS für Dich, eine der erfolgreichsten deutschen Filmkomödien des Jahres. Karoline Herfurth, die das Drehbuch schrieb, Regie führte und die Hauptrolle spielte. Eine sympathische, luftige romantische Komödie und ein überzeugendes Debüt. Ähnliches gilt für Der geilste Tag: 1,7 Millionen Zuschauer sahen diese temporeiche Tragikomödie mit den Publikumslieblingen Matthias Schweighöfer und Florian David Fitz. Fitz spielt aber nicht nur, sondern hat auch das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Er erzählt die erlebnishungrige Achterbahnfahrt von zwei jungen, todkranken Männern. Fast 2 Millionen Zuschauer erreichte der Kinder-Jugendfilm Bibi & Tina 3 – Mädchen gegen Jungs von Regisseur Detlev Buck, dem nunmehr dritten Film mit der kleinen Hexe und ihrer Pferdefreundin auf Schatzsuche. Buck schaffte es, nicht den faden, auf Kalkül setzenden Aufguss einer Erfolgsstory in Szene zu setzen, sondern eine witzige, temperamentvolle und erfrischend lebendige Fortsetzung mit einiger Sensibilität zu produzieren.

Nach so vielen Komödien dann doch ein echter und konsequenter „Problemfilm“: Die Hände meiner Mutter: der Schlussteil einer Trilogie, die Regisseur Florian Eichinger erst mit Bergfest (2008), dann mit Nordstrand (2013) zu seinem Leitthema „Gewalt in der Familie“ inszenierte. Eichinger dreht hier die Opferrolle um: Eine Mutter hat ihren Sohn als Kind sexuell missbraucht, womit der sich erst Jahrzehnte später auseinanderzusetzen vermag. Dank immenser Feinfühligkeit – im Spiel von Jessica Schwarz und Andreas Döhler – und Inszenierung sowie intelligentem Drehbuch ein Stück selten gewordenes „Kino für Erwachsene“.

Ein neuer Pfad im deutschen Filmschaffen scheint sich in Form von sogenannten „Biopics“ abzuzeichnen, also Filmen, die eine historische Persönlichkeit, ihr Leben und ihr Werk kinogerecht dramatisieren. Das ist recht gut gelungen mit Paula: einem Porträt der Malerin Paula Modersohn-Becker, von Regisseur Christian Schwochow als Kampfzone einer jungen Künstlerin im Minenfeld der von Männern beherrschten Kunst-Welt gestaltet. Vor der Morgenröte mit einem faszinierend feinfühlig aufspielenden Josef Hader, der niemals den Komödianten zum Vorschein kommen lässt. Die Schauspielerin Maria Schrader drehte diese Koproduktion von Österreich, Deutschland und Frankreich mit großem Gespür für Zwischentöne 

Tschick: Das ist die recht gelungene Verfilmung des gleichnamigen Jugendromans von Wolfgang Herrndorf. Überraschend übernahm Fatih Akın die Regie – seine erste „Auftragsarbeit“, die er souverän und überzeugend gestaltete. Was den über 700 000 Besuchern von Tschick gut gefiel. Weniger souverän dann Altmeister Werner Herzog mit dem Öko-Katastrophen-Melodram Salt and Fire: spektakuläre visuelle Natur-Szenarien am Salar de Uyuni, dem größten Salzsee der Erde. Trotz seiner Umweltfreundlichkeit ist der Film nicht Fisch, nicht Fleisch, weil einfach das Salz fehlt. Nebel im August ist ein durchaus berührendes, gut gemachtes Drama über ein Stück deutscher Finsternis: Die Euthanasie im Dritten Reich. Regisseur Kai Wessel verfilmte den Tatsachenroman von Robert Domes recht eindrucksvoll. Der Film 24 Wochen fordert einem Paar – Julia Jentsch & Bjarne Mädel – die Entscheidung ab, ihr nach der Geburt aller Wahrscheinlichkeit nach schwer behindertes Kind während der Schwangerschaft abzutreiben. Anne Zohra Berrached machte daraus kein Melodram, sondern einen intelligenten Mix aus Realität und Fiktion. 

Haymatloz - Exil in der Türkei ist ein überraschender Dokumentarfilm von Regisseurin Eren Önsöz über ein kaum bekanntes Faktum: die Aufnahme deutscher Flüchtlinge nach der Machtübernahme durch die Nazis in der Türkei. Es war der Staatsgründer Atatürk, der vor allem deutsche Wissenschaftler in sein Land holte. Diesmal erfreut und brilliert Doris Dörrie: Grüße aus Fukushima ist eine Art Roadmovie an den Rändern des Super-Gau-Zentrums in Japan, Fukushima. Dörrie schuf einen klugen, berührenden und poetischen Film in wunderbaren Schwarzweiß-Bildern. Und dass das Boxer-Melodram Herbert von Regisseur Thomas Stuber mit einem fantastisch aufspielenden Peter Kurth in der Titelrolle beim „Deutschen Filmpreis“ als „Bester Spielfilm in Silber“ gefeiert wurde, ist nur recht und billig, zumal dieser Film zuvor schon beim letzten Nürnberger Filmfestival preisgekrönt wurde.

In Berlin lebt die Türkin Aslı Özge, und Auf einmal ist ihr erster deutscher Film, ein kafkaesk anmutendes Psychodrama, das von einem Mann erzählt, dem sein Leben zu entgleiten droht. Der eigenwillig und wendungsreich inszenierte Film lebt auch von den überraschenden, ungewohnten Bildern des Kameramanns Emre Erkmen. So entstand ein außerordentlicher Film, der Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen irritierend unterläuft. Was in einer Filmwelt, in der das Publikum vornehmlich mit Komödien gefüttert wird, daran erinnert, was Kino auch sein kann – anders.

 

Jochen Schmoldt

Journalist, Nürnberg