Als Ara Güler vor einigen Jahren, nach der Uraufführung eines meiner Filme in Istanbul, mich zu seinem Lieblingsrestaurant am Bosporus, „Kıyı“, einlud und mir vorschlug, ein Filmportrait über ihn zu machen, stockte mir fast der Atem: sollte der Maestro etwa mit meiner kinematographischen Sprache, und mit den Bildern meiner bewährten Kamerateams zufrieden sein?!  Schon im Kindesalter in Istanbul war ich begeistert von seinen Fotos, besuchte mit meinen Eltern jede Ausstellung des schon damals legendären Fotografen– und jetzt, ein Filmportrait mit ihm, über ihn? Welche Herausforderung, welch’ spannendes, und, ja, uferloses Abenteuer, das sich mit einigen Unterbrechungen und vielen faszinierenden Reisen, u.a. nach Armenien, nach Anatolien, nach Deutschland... über mehr als drei Jahre erstrecken sollte.

Denn ich wusste, dass Ara Gülers Aufnahmen ihre besondere magische Anmutung seiner Hingabe zu seinem Beruf und der grenzenlosen Begeisterung verdanken, und dass er dies selbstverständlich von jedem erwartete, der sich einer Passion verschrieben hat.

Für mich, wie für jeden Istanbuler, ist Ara Güler vor allem der Chronist dieser faszinierenden Stadt, der den alltäglichen Überlebenskampf der Menschen, Schmerz, Freude und Sorgen; die Geschichte und Geschichten Istanbuls, aber auch der Türkei, seit Jahrzehnten in seinen Aufnahmen dokumentiert. Ara verkörpert die Opulenz dieser einzigartigen Metropole, dieses ewigen Schmelztiegels, in dem seit Jahrtausenden unterschiedlichste Kulturen und Ethnien aufeinandertreffen und in Ara Gülers Kosmos eine Symbiose bilden.

Orhan Pamuk, Träger des Literaturnobelpreises und türkischer Autor, sagt in unserer Dokumentation, die das 22. Filmfestival Türkei Deutschland eröffnet, dass er nach ein paar Stunden in Ara Gülers Archiv Hunderte von Seiten über die früheren Jahre Istanbuls zu Papier bringen könnte.

Ara Güler zeigt uns in der Tat einerseits die Welt der Erwachsenen in den Straßen Istanbuls und in Anatolien mit ihren Hoffnungen und Ängsten, ohne das Lachen der Kinder in der verarmten Nachbarschaft und ihre Freude aus dem Fokus zu verlieren. Er besteht immer noch darauf, ein Fotojournalist zu sein; aber auch heute noch arbeitet er manchmal bis spät in die Nacht, um unscheinbar wirkenden Momenten seiner Bilder Poesie zu entlocken. Allerhöchste Priorität gilt dabei der Komposition, wie er immer wieder betont.

Wer einmal dort war, in den oberen Stockwerken des Hauses von Ara Güler, in Galatasaray im Bezirk Pera in Istanbul, in dem Haus, das er von seinem geliebten Vater, Dacat Bey geerbt hat, der weiß, dass sich in diesem altehrwürdigen, bescheidenen Gebäude ein Archiv von unschätzbarem Wert befindet.

Dort ist auch auch die berühmte Dunkelkammer untergebracht, in der er jahrzehntelang seine fesselnden Aufnahmen mit meisterhafter Präzision bearbeitete. Tage und Nächte verbrachte er zuweilen mit Freunden aus der ganzen Welt in seinem Studio, dessen technische Ausrüstung inzwischen musealen Wert erlangt hat. Und ein Museum wird sich ihrer eines Tages sicherlich auch annehmen, wie sich das zuletzt herauskristallisiert hat.

Ara Güler dokumentierte den Alltag seiner Zeit und pflegte stets enge Kontakte zu Künstlern und Schriftstellern seiner Epoche: Cartier-Bresson, den er bereits 1953 kennenlernte, Bruno Barbey, Steve McCurry, Nicos Economopoulos, Koudelka, Salgado und Jimmy Fox, um nur einige zu nennen, und die fast alle Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum sind. Zu den Schriftstellern, die er porträtierte und die zu seinen Freunden wurden, zählen u.a. William Saroyan, Sait Faik und Yaşar Kemal. Ein Höhepunkt seiner Experimente als Dokumentarfilmer ist der Film über die Demontage des deutschen Kriegsschiffes „Dönitz“, das später unter dem Namen „Yavuz“ in die osmanische Marine überging: „Das Ende eines Helden“ (1954); mit unvergesslichen Aufnahmen und Arbeiterportraits - mit dadaistischen Andeutungen.

Nicht nur das alte Istanbul, das er vornehmlich in schwarz-weiß verewigte; auch Aphrodisias, die antike griechisch-römische Stadt in der Landschaft „Karien“ (Geyre) in Westanatolien, die er (wieder-)entdeckt und bekanntgemacht hat, ist ein großer Beitrag Ara Gülers zum Weltkulturerbe. Die Überreste der antiken Stadt, deren Ursprünge sich bis ins dritte Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgen lassen, sind mit ihren prachtvollen Tempeln und eindrucksvollen urbanen Strukturen auf Hunderten von Bildern von Ara zu bewundern, die in mehreren Fotoalben zusammengefasst worden sind.

Und es gibt viele Orte, die Spuren in seiner Biographie hinterlassen haben: Anlässlich einer Reise nach Eriwan vor einigen Jahren mit unserem Team, seiner ersten nach fast 30 Jahren, wandte er sich mit dem Appell an uns, die Augen vor der Geschichte nicht zu verschließen – wenn wir im Frieden zusammenleben wollen. Das gilt natürlich nicht nur für die Menschen in Armenien und der Türkei, sondern für die ganze Welt. Die Stunden, Tage, Wochen, die wir mit ihm verbracht haben, gehören zu den unvergesslichen Momenten unseres Lebens; seine manchmal unerwartet philosophischen, manchmal ironisch-spöttischen Bemerkungen, gespickt mit Erfahrungen, die er in verschiedenen Epochen und Kulturkreisen verinnerlicht hat, gestalteten die Zusammenarbeit zu einem großen, und fast immer lehrreichen Vergnügen.

Aber ganz gleich, wo in der Welt er sich gerade befindet, Istanbul, die Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist, bleibt seine „Heimat“, die ihn am meisten fasziniert und bezaubert.

Durch die Fenster seines Hauses in der Tosbağa-Straße in Galatasaray ging sein Blick zunächst hinaus auf die Straßen von Istanbul, dann weiter in die Wirklichkeit Anatoliens, bis hin zu prähistorischen Zivilisationen, und hinein in das faszinierende Universum der Kunst der Fotografie. Er schrieb die bebilderte Geschichte der Türkei fort. In den letzten Jahrzehnten des 20ten Jahrhunderts fanden zahlreiche historische Ereignisse in der Türkei ihren Weg durch den Sucher seiner Kamera zu den Nachrichtenagenturen der Welt.

In diesen Jahren fotografierte Ara Güler nicht nur in Europa und Amerika. Er war in fast jedem Winkel der Erde unterwegs; unermüdlich ziselierte er Menschen ferner Länder in seine Fotografien hinein. Fatih Akın, der junge Starregisseur, den Ara ebenfalls bewundert, verbeugt sich vor dem großen Meister, in dem er sagt:

„Den Aufnahmen Ara Gülers und insbesondere den Schwarz-Weiß-Fotos wohnt eine dramatische Schönheit inne. Seine Kompositionen haben mich in allen meinen Arbeiten am meisten inspiriert. Ich arbeite zwar nicht mit Schwarz-Weiß-Fotos, aber Ara Güler ist für mich als Regisseur trotzdem Vorbild für mein bildnerisches Gestalten.“

Ara Güler ist der bekannteste Vertreter des Realismus in der Türkei, deren Vorreiter in Europa Henry Cartier-Bresson und Alfred Stieglitz waren. Wie sie ist auch Ara Güler immer dort, wo es neue Bilder gibt, die ihm neue Anregungen geben könnten – im Sommer wie im Winter. Selbst im hohen Alter von fast 90 Jahren wartet er, wenn nötig, stundenlang und gibt sich nicht eher zufrieden, bis er die Szenen so eingefangen hat, dass sie seiner Vorstellung entsprechen.

Mit seinem außergewöhnlichen Gespür für jedes einzelne Bild, der Empathie für das Menschliche und seiner unendlichen Passion hat Ara Güler, dieser ausgewiesene Weltbürger, sich bereits einen legendären Ruf im Bildgedächtnis der Menschheit erworben, - unermüdlich auf der Suche nach dem noch besseren Bild, das er mit seiner Analogkamera machen kann; nicht die Technik zählt, sondern das geschulte Auge dahinter, würde er hinzufügen.

Danke Ara, für die Zeit, die wir mit dir verbringen durften - danke für das große Geschenk, für Dein Werk, das du uns allen gemacht hast.

Und danke, dass das gemeinsame Produkt unserer immer wieder recht spannenden Zusammenarbeit, in aller Bescheidenheit, eine, selbstverständlich kritische, Würdigung von Dir erfahren durfte.

Osman Okkan

Köln / Paris, Januar 2017