2016 war ein schwieriges Jahr für die Türkei: Der Putschversuch, die Wirtschaftskrise, der Syrien-Konflikt, Terroranschläge und innenpolitische Skandale mit enormen gesellschaftspolitischen Folgen führten dazu, dass große Teile der Bevölkerung extrem unter diesen Spannungen litten... Ereignisse, die in einem normalen Land vielleicht innerhalb eines Jahrzehnts stattfinden könnten, erlebte die Türkei innerhalb eines einzigen Jahres - Naturkatastrophen hätten noch gefehlt. Zudem verlor das Land auch seinen "schönen Prinzen”, den es seit 1971 mit großer Liebe auf der Leinwand bewunderte.

Der legendäre Schauspieler Tarık Akan, der nicht nur mit seinem schönen Lächeln, sondern auch mit seiner politischen Haltung die Herzen von Generationen erobert hatte, verstarb 2016. Seine Entscheidung Ende der 1970er Jahre, weniger das Massenpublikum zu bedienen, sondern mehr Rollen in gesellschaftskritischen Filmen zu spielen, hatte sicherlich mit der Politisierung jener Zeit zu tun, die das gesamte Land ergriffen hatte. Auch wenn der Militärputsch von 1980 zum Ziel hatte, die türkische Gesellschaft zu entpolitisieren, gab es in der Kinokunst eine Zeit lang Widerstand dagegen. Doch ab den 2000er Jahren gewannen im türkischen Kino diejenigen die Oberhand, die sich ausschließlich auf die Kassenerfolge konzentrierten um das entpolitisierte Massenpublikum zu bedienen. Flankiert nicht zuletzt vom Boom der TV-Serien, deren jede einzelne Folge einschließlich der Werbelöcke bis zu drei Stunden dauert. Serien, deren dramaturgischer Aufbau über die Schmerzgrenze hinausgestreckt wird. Dabei entstand ein System, welches alternativen Ideen gegenüber “vorsichtig” war und sich selbst einer Selbstzensur unterwarf, die folglich auch die künstlerische Kreativität einengte. Zwar fanden diese TV-Serien im Nahen Osten einen guten Absatzmarkt und bescherten den Produzenten große wirtschaftliche Erfolge, zugleich führten sie aber dazu, dass das künstlerische Potenzial der TV-Serien immer mehr verkümmerte, so dass es sich auch negativ auf die Kinokunst auswirkte. Der Trugschluss, dass das Profil des türkischen Kinozuschauers gleich sei mit dem des Fernsehzuschauers, führte zudem dazu, dass nur solche Filme für das Kino gedreht wurden, die ausschließlich den Geschmack der Fans von TV-Serien bedienten. Billige Komödien, klischeeüberladene romantische Geschichten und Horrorstreifen mit kleinem Budget und viel Blut bestimmten das Mainstream-Kino. Doch der Kassenschlager von 2016 war dennoch ein Film, der diese Klischees nicht bedient hatte.

Die türkische Armee, die für die Gesellschaft als “Heim des Propheten” gilt, die sie liebt und ihr vertraut, verlor in den letzten Jahren nicht nur Ansehen, sondern wurde auch in ihrer Struktur geschwächt. Zuerst wurden Teile von unschuldigen Kadern aufgrund von Verleumdungen jener Kräfte, die sich innerhalb der Streitkräfte eingenistet hatten, ihren Ämtern enthoben. Dann versuchte die Terrororganisation, die diese Verleumdungen verbreitete, am 15. Juli 2016 einen Putsch. Doch an diesem Tag konnte sich die Türkei in letzter Minute dagegen wehren, um nicht in einen Abgrund zu stürzen. In diesem gesellschaftlichen Klima wurde unter allen anderen einheimischen Produktionen der Film Dağ - 2 (Der Berg - 2) zum Blockbuster. Ein Film, der von einer Sondereinheit der türkischen Armee erzählt, die jenseits der Landesgrenzen eine vom IS entführte Journalistin retten soll und dabei auch ein turkmenisches Dorf beschützt. Es ist ein Streifen, der in seiner Erzählstruktur sehr den klassischen Kriegsfilmen aus Hollywood ähnelt. Handwerklich solide gedreht, vor allem in den Kampfszenen, sticht der Film dadurch hervor, dass er im Gegensatz zu der ersten Folge, der nach Rassismus roch, einen humanistischeren Blickwinkel einnimmt, der trotzdem nicht ohne Feindbilder auskommt, vor allem in seinen Dialogen.

Auch wenn Dağ - 2 dieses Jahr an der Spitze stand, an die einheimischen Blockbuster, die in den letzten Jahren vier bis fünf Millionen Eintrittskarten verkauften, konnte der Film bei weitem nicht herankommen. Selbst wenn die Gesamtzahl der verkauften Eintrittskarten kaum einen Rückgang verzeichnen, sieht der Anteil der einheimischen Produktionen dennoch nicht rosig aus. Obwohl acht der zehn Blockbuster einheimische Produktionen waren, stellen wir 2016 einen Rückgang von acht Prozent fest. Den Löwenteil hatten 12 Komödien mit jeweils über einer Million verkauften Eintrittskarten.

Das sind sicherlich keine zufriedenstellen Zahlen für ein Land mit über 80 Millionen Einwohnern, wenn 98 einheimische Filme jeweils unter der Marke von 100.000 Zuschauern geblieben sind. Abgesehen davon, dass 58 Produktionen davon weniger als 10.000 Zuschauer erreichten. Nur 35 Filme konnten die “psychologische” Grenze von 100.000 übertreffen. Letztes Jahr waren es 47.

Trotzdem lobten die Kritiker 2016 mehr einheimische Filme als in der letzten Saison: Ekşi Elmalar (Saure Äpfel), İftarlık Gazoz (Limo zum Fastenbrechen), Annemin Yarası (Die Wunde meiner Mutter), İkimizin Yerine (Für uns beide), İkinci Şans (Die zweite Chance) und Kötü Kedi Şerafettin (Der miese Kater Şerafettin) sind solche, die an den Kassen nicht untergegangen sind.

Jenseits des Mainstreams machten auf nationalen und internationalen Festivals nicht wenige Filme, die sich der wahren Probleme des Landes annahmen, auf sich aufmerksam, worüber man stolz sein darf. Vor allem waren es mutige Arbeiten von Regisseurinnen wie Senem Tüzen mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Film Ana Yurdu (Mutterland), in dem sie den religiösen und sozialen Druck auf die Frauen im Spannungsfeld einer Mutter-Tochter-Beziehung erzählt. Toz Bezi (Staublappen) von Ahu Öztürk thematisiert die Einkommensungleichheit und die Klassenunterschiede über die Geschichte zweier Putzfrauen. Der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau widmet sich auch Yeşim Ustaoğlu in ihrem Film Tereddüt (Clair-Obscure), der vom unerfüllten Leben der Frauen erzählt, die Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt sind. Mustafa Karas mehrfach ausgezeichnetes Werk Kalandar Soğuğu (Die Kälte von Kalandar), die türkische Oscar-Nominierung für den besten ausländischen Film, handelt von der Ausweglosigkeit eines Mannes, der in einem Bergdorf an der Schwarzmeerküste unter den harten Umweltbedingungen um das Überleben seiner Familie kämpft. Mehmet Can Mertoğlus Albüm (Das Album) nimmt die türkische Mittelschicht unter die Lupe und übt eine ungewöhnliche Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen aus. Rüya (Traum) von Derviş Zaim erzählt von Profitinteressen im Bausektor, die über sämtliche humanistische Werte hinweg durchgesetzt werden. Der Arbeitswelt widmet sich auch Kıvanç Sezer, der in Babamın Kanatları (Die Flügel meines Vaters) in einer tragischen Geschichte ohne Pathos sich den Arbeitsunfällen mit tödlichen Folgen annimmt, die in den letzten Jahren in der Türkei stark angestiegen sind. Seren Yüces Rüzgarda Salınan Nilüfer (Seerosen im Wind) basiert auf einem herausragenden Drehbuch, in dem die Heuchelei der oberen Mittelschichten in den Metropolen thematisiert wird. Ähnliches erzählt in Kor (Die Glut) auch Zeki Demirkubuz und setzt sich mit dem unberechenbaren Seelenzustand des menschlichen Daseins auseinander. Zu diesen herausragenden Arbeiten, die allesamt zu den besten Beispielen der Filmkunst zählen, gehört nicht zuletzt auch Reha Erdems gefühlvoller und poetischer Film Koca Dünya (Große, große Welt), der mit Ausnahme von Festivals in der Türkei kaum gezeigt wurde.

2016 war in jeder Hinsicht nicht nur für Türkei ein schwieriges Jahr, sondern für alle Länder der Welt. Bleibt zu hoffen, dass 2017 ein friedlicheres Jahr wird mit noch besseren Filmen.

 

Burak Göral

Filmkritiker/ Mitglied der Vereinigung der Filmkritiker

Istanbul